Nachruf Prof. Dr. Gerd Jüttemann

Autogenese: Gerd Jüttemann hinterlässt eine interdisziplinäre Herausforderung

Nach kurzer Krankheit ist Gerd Jüttemann – fast 90jährig – in Berlin gestorben. Als Professor für Psychologie an der TU Berlin war er ein konstruktiver Kritiker thematischer Verengungen des Mainstreams in seinem Fach. Bis in seine letzten Lebenswochen arbeitete er intensiv an seinen psychologisch-historischen Publikationen. „Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit“ (1) war während der letzten Jahrzehnte sein Lebensthema – in expliziter Nachfolge von Wilhelm Wundt.

Jütttemann beschrieb sein wissenschaftliches Projekt: „Die Menschheitsentwicklung vollzieht sich als Evolution und kollektive Autogenese. Es gilt, vor allem den letztgenannten Prozess grundlegend zu erforschen; ich würde mir wünschen, dass dies innerhalb der Psychologie geschehen und eine so erweiterte Disziplin die Basis für eine integrative Humanwissenschaft werden könnte.“ (2)

Noch im höchst aktiven und kreativen „Ruhestand“ führte Gerd Jüttemann WissenschaftlerInnen aus der Psychologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie und angrenzenden Disziplinen zusammen und publizierte mit ihnen interdisziplinäre, jeweils thematisch kohärente Aufsatzbände zur Psychogenese. Mitglieder der MVE-Liste trugen wesentliche Arbeiten bei. Mehr als 20 Bücher sind daraus entstanden – bei Pabst Science Publishers, im Psychosozial Verlag und bei Vandenhoeck + Ruprecht.

Im Band „Menschliche Höherentwicklung“ (3) folgert Jüttemann aus der zurückliegenden Evolution, es „wäre zu erwarten, dass das schöpferische Potenzial der kreativen Individuen generell weiter ansteigt und sich dadurch für die universelle Autogenese oder die psychologische Gestaltungsgeschichte der Menschheit eine günstige Perspektive eröffnet.“ Selbst destruktive Verhaltensweisen können positive Entwicklungen auslösen (4).

Gerd Jüttemann hat das Repertoire und die Perspektiven der Psychologie deutlich erweitert. Einer seiner Mitherausgeber, Professor em. Dr. Dr. Uwe Krebs, bilanziert: „Die Arbeiten zur Psychogenese in einem interdisziplinären weiten Begriffsverständnis haben inzwischen erfreulich zugenommen und umfassen nicht nur, aber vor allem ein breites Spektrum unterschiedlicher Humanwissenschaften. Die integrative Offenheit hat sich dabei als starker Motor gezeigt …“ (5)

Mit dem Tod von Gerd Jüttemann ist sein Projekt auch nicht annähernd abgeschlossen: Es bietet eine faszinierende Herausforderung und Chance für nachfolgende Generationen.

Wolfgang Pabst

(1) Jüttemann, G. Hrsg. (2013) Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich: Pabst
(2) Renner, K. , Lück, H. (Hrsg.) (2017) Psychologie in Selbstdarstellungen. Lengerich: Pabst
(3) Jüttemann, G. Hrsg. (2019) Menschliche Höherentwicklung. Lengerich: Pabst
(4) Jüttemann, G. Hrsg. (2023) Wie Destruktivität die Geschichte lenkt. Gießen: Psychosozial-Verlag
(5) Krebs, U. Hrsg. (2023) Woher und Wie? Verhalten und Erleben in der Geschichte der Menschheit. Lengerich: Pabst

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